Informatiklehrer Peter Brichzin arbeitete ein Jahr lang in einem mittelständischen Softwareunternehmen
Viele der Jugendlichen, die heute die Schulbank drücken, könnten die Fachkräfte von morgen sein – Fachkräfte, die die Wirtschaft dringend benötigt, insbesondere in IT- und Ingenieursberufen. Umso wichtiger ist es, noch mehr Schülerinnen und Schüler für eine Laufbahn in den MINT-Berufen zu begeistern. Der Haken an der Sache: In der Regel kennen Lehrerinnen und Lehrer den späteren Berufsalltag ihrer Schützlinge nicht aus der Praxis, führt doch der klassische Lehrerbildungsweg vom Studium direkt an die Schule. Das Projekt „Lehrer in der Wirtschaft“ geht neue Wege: Es ermöglicht Gymnasiallehrkräften den Blick über den Tellerrand, indem sie selbst ein Jahr lang für ein Wirtschaftsunternehmen zum Einsatz kommen. Peter Brichzin, seit 15 Jahren Lehrer und Fachbetreuer für Informatik am Gymnasium Ottobrunn in der Nähe von München, hat an dem Projekt teilgenommen und das vergangene Schuljahr nicht an der Schule, sondern bei einem mittelständischen Softwareunternehmen verbracht, der Münchener QAware. Im Interview berichtet er, weshalb ein solcher Perspektivwechsel sich für alle Beteiligten lohnt und den Informatikunterricht an Schulen nachhaltig verbessern kann.
Herr Brichzin, vor welchen Herausforderungen steht die Informatik als Schulfach heutzutage?
Brichzin: Es ist paradox: Von Seiten der Politik wird immer wieder betont, wie wichtig es für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft ist, junge Menschen früh für die Informatik zu begeistern – gleichzeitig verschwindet das Fach in manchen Bundesländern gerade wieder von den Stundenplänen. In Bayern sind wir in dieser Hinsicht relativ gut aufgestellt: Hier ist Informatik bereits ab der sechsten Klasse im Rahmen des Natur- und Technikunterrichts ein Pflichtfach. Das zahlt sich aus. Zum Beispiel ist der Anteil der Mädchen, die Informatik in der Oberstufe beibehalten, rasant gestiegen: Kam früher in meinen Kursen oft nur ein Mädchen auf 15 bis 18 männliche Schüler, sind es heute manchmal bis zu einem Drittel. Hier sind Lehrer in einer Schlüsselfunktion, um Potenziale zu wecken und Kompetenzen zu stärken. Mit etwas Sorge sehe ich allerdings, dass immer seltener zwischen Informatik und Medienbildung unterschieden wird. Ich stimme durchaus zu, dass es heute wichtiger ist denn je, dass Jugendliche im Umgang mit digitalen Medien eine hohe Kompetenz entwickeln – aber ich bin eben auch der vollen Überzeugung, dass diese Kompetenz wesentlich fundierter und nachhaltiger wird, wenn man hinter die Kulissen blickt. Und dafür ist die Informatik da.
Einen Blick hinter die Kulissen haben auch Sie selbst gewagt: Sie sind im Rahmen des Projekts „Lehrer in der Wirtschaft“ für ein Jahr aus Ihrem Berufsalltag an der Schule ausgestiegen. Was hat Sie dazu bewogen?
Brichzin: Ich hatte einfach ein großes Interesse daran, in einem Unternehmen mit hohem Innovationsgrad einen Einblick in das Berufsbild des Informatikers zu bekommen. Und zwar, weil ich diese Erfahrungen in Lehrerfortbildungen, bei der Konzeption von Schulbüchern und natürlich vor allem im eigenen Unterricht weitergeben möchte. Anders als Beamte in Ministerien können Lehrer sich aber nicht einfach für einen Wirtschaftsaufenthalt beurlauben lassen. Das Projekt „Lehrer in der Wirtschaft“, das von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft und dem bayerischen Bildungswerk gefördert wird, schlägt hier eine wichtige Brücke und ermöglicht es Lehrern wie mir, ein Jahr lang Unternehmensluft zu schnuppern.
Sie waren im vergangenen Schuljahr als Informatiker für einen mittelständischen Softwaredienstleister im Einsatz, der Münchener QAware. Weshalb haben Sie sich gerade für dieses Unternehmen entschieden?
Brichzin: Die QAware war mir bereits über ein anderes Projekt bekannt, das Schülerstipendium Informatik. Ein tolles Projekt: Es bietet talentierten Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, einen ersten Einblick in die Informatik als Berufswelt zu erlangen. Daraus erwuchs ein guter Kontakt zur Geschäftsführung – und schließlich die Idee, einmal die Seiten zu wechseln. Was mich neugierig gemacht hat, war zum einen die Tatsache, dass die QAware ein sehr innovatives Unternehmen ist, das sich vor allem dadurch am Markt behauptet, dass es durch ein durchdachtes Fortbildungskonzept nicht nur am Puls der Zeit, sondern immer einen Schritt voraus ist. Zum anderen reizte mich die Unternehmenskultur, die im Mittelstand ganz anders ist als in der Schule – beispielsweise duzte sich der Geschäftsführer selbst mit den Schülerstipendiaten und mit kleinen Gesten wie Wasser und Obstkörben für zwischendurch entsteht ein Klima, in dem die Mitarbeiter gern produktiv sind. Übrigens ist dieser fachspezifische Einsatz bei „Lehrer in der Wirtschaft“ eher selten, oft sind die Tätigkeitsfelder eher allgemeiner. Für mich schafft aber die Rückkopplung zu meinem Unterrichtsfach genau den Mehrwert des Projekts.
Nun weht in einem Unternehmen ein ganz anderer Wind als an der Schule. Wie waren die ersten Tage in der freien Wirtschaft für Sie?
Brichzin: Ehrlich gesagt: ganz schön anstrengend. In der ersten Zeit gab es für mich an jedem zweiten Tag ein neues Tool kennenzulernen. Die Projekte der QAware sind sehr komplex und die hohe Dichte an neuen Inhalten war manchmal hart: Anfangs hatte ich oft das Gefühl, wenig produktiv zu sein – das ist etwas, das ich aus meinem Lehrerberuf, den ich seit 15 Jahren mit Leidenschaft ausübe, tatsächlich so nicht kenne. Aber da es große Unterstützung durch die übrigen Mitarbeiter und genug Raum zum Freischwimmen gab, konnte ich nach sechs bis acht Wochen Einarbeitungszeit genauso zum Projektfortschritt beitragen wie alle anderen.
In welchem Bereich wurden Sie eingesetzt?
Brichzin: In den ersten vier Monaten entwickelte ich als Softwareingenieur einen Prototypen einer Erweiterung von Navigationssystemen, die Autofahrer bei der Parkplatzsuche unterstützen soll. Zu meinen Aufgaben gehörte nicht nur die Implementierung verteilter Systeme, sondern auch die Validierung eines Wahrscheinlichkeitsmodells auf Basis von Geodaten, die ein- und ausparkende Fahrzeuge zuliefern. Die folgenden acht Monate war ich dann dem derzeit größten Projekt der QAware zugeordnet. Dabei geht es um die Entwicklung eines zentralen Informationssystems für den After-Sales-Bereich eines Automobil- und Motorradherstellers. Hier habe ich noch einmal ein ganz anderes Berufsfeld für Informatiker kennengelernt: das des Beraters. In enger Abstimmung mit dem Kunden werden zum Beispiel fachliche Anforderungen hinterfragt, Datenquellen analysiert und Lösungsmöglichkeiten entwickelt und bewertet.
Begegneten die anderen Mitarbeiter Ihnen mit Vorbehalt, weil Sie nicht aus einem unternehmerischen Kontext kamen?
Brichzin: Überhaupt nicht. Eine Sonderbehandlung gab es für mich nicht: Ich war schon ab meinem ersten Arbeitstag als Informatiker in laufende Projekte eingebunden. Das mag daran liegen, dass die Wege in die IT ohnehin sehr facettenreich und nicht immer geradlinig sind. An manchen Stellen habe ich sogar gezielt meine didaktischen Fähigkeiten einbringen können: Zum Beispiel habe ich an der konzeptionellen Weiterentwicklung des unternehmensinternen Schulungsprogramms mitgearbeitet. Auf diese Weise können Projekte wie „Lehrer in der Wirtschaft“ auch dazu beitragen, das schlechte Lehrerbild in unserer Gesellschaft ein wenig zu korrigieren. Ich persönlich habe jedenfalls viel positive Rückmeldung für meine didaktische Herangehensweise an Problemstellungen bekommen.
Welchen Nutzen ziehen Sie aus Ihrem Ausflug in die Praxis? Können Sie daraus neue Impulse für den Unterricht ziehen?
Brichzin: Meine Zeit bei der QAware hat mir den Blick dafür geöffnet, inwiefern die Lehrplaninhalte im Fach Informatik überhaupt noch zeitgemäß sind. Das Denken in Strukturen und deren Sichtbarmachung in Diagrammen beispielsweise ist ein wesentlicher Aspekt in jeder Projektanfangsphase, wenn die Architektur einer Software festgelegt wird. Die dafür verwendeten Modellierungstechniken ähneln tatsächlich denen, die wir in der Schule unterrichten – dieser rote Faden im Lehrplan ist also durchaus sinnvoll. Wo es aus meiner Sicht großen Nachholbedarf an den Schulen gibt, ist auf dem Feld der Projektabwicklung: Software wird in der Wirtschaft immer öfter mit agilen Methoden entwickelt. Das gilt nicht nur für kleine und mittelständische Unternehmen, sondern längst auch für die großen DAX-Konzerne. Ein zeitgemäßer Informatikunterricht sollte genau das berücksichtigen und das überholte Wasserfallmodell als verbindlichen Abiturinhalt streichen. Dazu kommt, dass es in den Lehrplänen noch immer die Tendenz gibt, dass Schüler lernen sollen, Quelltexte für Programmierungen von null auf zu entwickeln. Das ist natürlich richtig und wichtig – in der Wirtschaft wird aber tatsächlich viel öfter mit Open-Source-Bausteinen mit hohem Reifegrad gearbeitet. Dieser Ansatz – das Verstehen und Modifizieren von fremdem Code – ließe sich eigentlich gut auf Schulniveau integrieren. Ich möchte am liebsten all diese Erkenntnisse an die Schule mitnehmen, muss aber natürlich schauen, inwieweit sich das mit dem gegenwärtigen Lehrplan vereinbaren lässt. Aber genau das ist ja die Aufgabe eines Lehrers: Komplexe Lerninhalte didaktisch so zu reduzieren, dass sie für die Schüler greifbar werden.
Hand aufs Herz: Wie schwer fällt es Ihnen, zum kommenden Schuljahr in den Lehreralltag zurückzukehren?
Brichzin (lacht): Ich könnte mir durchaus vorstellen, noch ein bis zwei Jahre länger in der Wirtschaft zu arbeiten. Aber letztendlich ist meine Berufung schon die Lehrertätigkeit. Jugendlichen Impulse für ihren späteren Lebensweg zu geben, ist für mich eine sehr sinnstiftende Aufgabe. Allerdings liefert mir mein Jahr bei der QAware noch einmal die Bestätigung, dass Informatik ein wahnsinnig spannendes Berufsfeld ist, indem man viel bewegen kann, und zwar in den unterschiedlichsten Projekten. Diesen Blick über den Tellerrand möchte ich meinen Schülern unbedingt vermitteln. Wenn ich jetzt in den Unterricht zurückgehe, habe ich ein ganz anderes Standing und eine andere Authentizität, weil ich weiß, was genau in den Unternehmen heute gefragt ist.
Welche Botschaften werden Sie Ihren Schülern mitgeben?
Brichzin: Das sind einige. Zum Beispiel, dass Informatiker nicht nur programmieren, sondern auch konzeptionell arbeiten, Strukturen festlegen und beraten. Das könnte noch einmal ganz andere Jugendliche für eine Karriere in der IT begeistern, vielleicht gerade auch mehr Mädchen, die meiner Erfahrung nach bei Modellierungsaufgaben im Unterricht oft besonders stark sind. Sinnvoll finde ich auch, den Schülern gegenüber zu betonen, wie wichtig es ist, sich das Unternehmen gut auszuwählen, für das man später arbeiten will. Bei großen Konzernen herrschen zum Beispiel ganz andere Bedingungen als bei einem innovativen Mittelständler. Firmenkultur und Zielsetzung müssen zum persönlichen Profil passen, damit der Spaß am Job erhalten bleibt. Und der Spaß an der Informatik sollte schon in der Schule beginnen. Ich würde mir deshalb wünschen, dass sich die Rahmenbedingungen für den Informatik-Unterricht in Deutschland noch weiter verbessern, um mehr Schülerinnen und Schüler für das Fach zu begeistern. Zum Beispiel dadurch, dass durch eine stärkere Berücksichtigung der Informatik in der Stundentafel mehr Freiraum bleibt, um selbst eigene Projekte zu entwickeln – eine Alarmanlage, interaktive Kunst, ein Spiel oder eine Roboterprogrammierung zum Beispiel. Da gibt es so viele tolle Sachen, womit man die Jugendlichen ins Boot holen kann. Und das ist wichtig: Schließlich brauchen wir qualifizierte Informatiker, die in unserer Gesellschaft etwas voranbringen. Aus meiner Sicht ist der Schlüssel dazu die Schule.
Das Interview führte Sandra Annika Meyer